von GDI-Researcher Zhan Li

Eine der Methoden, die das GDI-Team, das für die Erstellung der Rangliste der einflussreichsten Denker der Welt zuständig ist, neu eingeführt hat, ist die Erarbeitung einer neuen Definition von «Thought Leadership» selbst. Der wesentliche Punkt dabei ist, dass es bei Leadership gemäss Definition des GDI nicht nur um Einfluss geht: Als Thought Leaders «kommen lebende Personen in Frage, die vorwiegend als Denker agieren und über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinaus bekannt und einflussreich sind.» Diese Definition ist nicht nur für die Erstellung der Rangliste zentral, sie eröffnet auch die Möglichkeit, die Stärke und Nützlichkeit des Begriffs selbst neu und breiter zu fassen. Wie so viele Schlagwörter wurde auch der Begriff «Thought Leadership» ungemein populär und in derart vielen verschiedenen Zusammenhängen und Kontexten verwendet – nicht selten auf oberflächliche Art und Weise –, dass die Brauchbarkeit des Begriffs in Zweifel gezogen resp. dessen angeblich kurzlebige Trendigkeit kritisiert wurde. Eines der zentralen Probleme, die der Begriff aufwirft, ist der Umstand, dass viele Menschen der Meinung sind, es existiere gar keine gesicherte Definition. In den Bereichen Unternehmenswissen und Markenaufbau, in denen der Begriff zuerst Fuss fasste und immer noch am häufigsten auftritt, hat die Überzeugung, dass keine allgemein anerkannte Definition existiere, Personen angesichts der wachsenden Popularität des Begriffs dazu ermutigt, ihre eigene Definition zu entwickeln, die den jeweiligen Vorstellungen entgegenkommt. (Andere wiederum verwenden den Begriff, ohne sich dabei, sagen wir es so: allzu viele Gedanken zu machen.) Es gab unzählige Ansätze, den Begriff «Thought Leadership» zu definieren, was letztlich auch dazu führte, dass sich Unternehmen und Organisationen, aber auch Einzelpersonen selbst als «Thought Leaders» darstellten.

Der Begriff in seiner modernen Verwendung wurde 1994 von Joel Kurtzman geprägt, dem Gründungsherausgeber der Zeitschrift Strategy+Business (publiziert vom US-amerikanischen Management-Beratungsunternehmen Booz & Company). Er verwendete den Begriff in seiner Artikelserie «Thought Leaders», für die persönliche Interviews mit hochrangigen Geschäftsleuten, Akademikern und Autoren geführt wurden. Kurtzman, dem 2000 der Global Indira Gandhi Prize für seine Förderung der «Thought Leadership» verliehen wurde, definierte den «Thought Leader» als jemanden, der «einige neue, interessante Ideen hat, die es wert sind, weiter verbreitet zu werden, und die eine reale Anwendung haben… Wenn ich an Thought Leaders denke, so denke ich an Menschen, die mit neuen kreativen Ideen aufwarten, die in die Realität umgesetzt werden können.» Später beklagte sich Kurtzman im Rahmen eines Interviews 2013, dass das Konzept «völlig entwertet» worden sei: «Es wird heutzutage für alles und nichts eingesetzt. Es gibt sogar Thought Leaders für Speiseeis-Geschmacksrichtungen! Jedes Unternehmen hat seine Thought Leaders. Und oft verfügen Thought Leaders über gar keine Erfahrung in der Branche, in der sie angeblich führend sind. Sie kratzen in Sachen Verständnis, Wissen oder Ideen der Branche kaum an deren Oberfläche. Und sie käuen die Vergangenheit wieder. Der Begriff wurde verwässert, das ist das Beste, was man noch sagen kann.»

Die Definition des GDI fasst das Konzept «Thought Leader» neu und haucht ihm frisches Leben ein. Sie hält fest, dass es nicht nur auf die kreativen intellektuellen Anstrengungen einer einzelnen Person ankommt – in jedem Wissensbereich, nicht nur im Business per se –, sondern betont auch die Wichtigkeit des Netzwerks, das sich um diese Anstrengungen bildet, sowie die zentrale Rolle, die der Fähigkeit dieses Netzwerks zukommt, Grenzen zu überwinden und mit seinen Ideen unterschiedliche Felder zu beeinflussen und dort Wirkungen zu erzielen.

Die Wissenschaftler Read Diket und Sheri Klein haben festgehalten, dass Kurtzmans Konzept von Thought Leadership zu einem Zeitpunkt erarbeitet wurde, als das Internet langsam populär wurde. Es ist nicht klar, inwieweit Kurtzman die Art und Weise schätzte, mit der die Verbreitung neuer, vernetzter Informations- und Kommunikationstechnologien Thought Leadership umgestaltet. Wer das vorhandene und sich weiter entwickelnde Potenzial von Thought Leadership in seiner ganzen Bandbreite erfassen will, sollte die massive Beschleunigung und Erweiterung berücksichtigen, welche die Internetrevolution in Bezug auf die Weiterverbreitung von Ideen ermöglicht hat.

Die GDI-Definition von Thought Leadership wird gestützt durch die vertiefte Analyse des online vernetzten Diskurses, welcher die Ranglisten unterfüttert. Damit wird belegt, wie uns die breite Informationslandschaft des Internets nicht etwa daran hindert, sondern uns vielmehr darin unterstützt, eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen echtem Thought Leadership und dessen verwässerten Varianten. Wenn wir in die Zukunft blicken und die laufenden Veränderungen berücksichtigen, die sich aus den partizipativen und sozialen Medien ergeben, können wir auch die Erosion alter Hierarchien und institutioneller Vorurteile antizipieren, die den Grossteil des Thought Leadership immer noch prägen. Im Unterschied zu herkömmlichen Konzepten zu intellektueller Autorität und institutioneller Expertise scheint Thought Leadership in der Netzwerk-Ära immer ausgeprägter unhierarchisch zu werden und zunehmend offen gegenüber einer grösseren Vielfalt von Teilnehmenden und Kontexten zu sein – die neuen Konzepte gehen weit über die professionellen Dienstleistungen hinaus, welche den Kontext der Zeit, in welcher der Begriff aufkam, berücksichtigen. Diket & Klein führen aus, dass die heutige Ökologie des Internets Thought Leadership erweitert und intensiviert habe zu einem System für das Sichtbarmachen aufkommender Ideen und deren Einfluss. Die GDI-Definition, kombiniert mit deren Methoden der Netzwerk-Analyse, ist ein mächtiges Werkzeug, das hilft zu verstehen, wie aufkommende Ideen über zahlreiche Wissensgebiete und kulturelle Kontexte hinweg eingeschätzt werden können.