von David Goodhart

Das Wort «Stamm» gehörte bis vor Kurzem der fernen Vergangenheit der Menschheit an und rief Bilder von primitiven, mit Speeren bewaffneten Menschen oder vielleicht von ursprünglichen Gemeinschaften im amazonischen Regenwald hervor.

Aber gegenwärtig trifft man überall auf Wörter wie «Stämme» und «Tribalismus». Und das ist gut so. Die wiedergekehrte Stämme-Diskussion steht metaphorisch für die Erkenntnis der Seichtheit, von der ein Grossteil des modernen Liberalismus betroffen ist, mit seiner Unbeholfenheit, wenn es um das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Verbundenheit mit einer Gruppe geht, und mit seiner Behauptung, dass die Gesellschaft nur eine willkürliche Ansammlung von Individuen sei.

Sie steht ebenfalls für die Erkenntnis, dass die grossen, kollektiven Identitäten von Nation, Klasse und Religion in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden sind und die Wichtigkeit von Untergruppen – oft «Wertestämme» verschiedener Arten – zugenommen hat.

Wertestämme sind eine unvermeidliche Realität der modernen Welt, die jedoch oft eine fragmentierende Wirkung hat. Es hat sich eine Kluft aufgetan zwischen den zwei grossen, losen Wertestämmen, die die westlichen liberalen Gesellschaften dominieren. In meinem Buch «The Road to Somewhere» nenne ich sie die Menschen, die die Welt von «anywhere» («überall»), und jene, die sie von «somewhere» («irgendwo») aus sehen.

«Anywheres» – ca. 25 Prozent der Bevölkerung – sind meist gebildet und mobil, sie schätzen Offenheit, Autonomie und individuelle Selbstverwirklichung. Sie haben in der Regel eher Karrieren als Jobs und «erlangte Identitäten», die auf akademischem und beruflichem Erfolg basieren.

Die «Somewheres», die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sind im Gegensatz dazu stärker verwurzelt und weniger gut gebildet. Für sie sind Sicherheit, Vertrautheit und Gruppenzugehörigkeit (national oder regional) wichtig – also Dinge, die Anywheres oftmals nicht zu schätzen oder zu respektieren wissen. Somewheres haben normalerweise «zugeschriebene Identitäten» – ihr Gefühl für das eigene Selbst ist eher definiert durch ihren Herkunftsort und die regionalen Lebensweisen, an die sie gebunden sind. Das bedeutet, dass sie schlechter mit schnellem gesellschaftlichem Wandel umgehen können.

Dies ist aber nur die Haupt-Wertekluft – es gibt viele Ableger und Unterteilungen davon. Im wirklichen Leben gestaltet sich das Ganze weniger binär, als es sich anhört: Es gibt eine grosse Gruppe von ca. 25 Prozent der Bevölkerung, die sich fast zu gleichen Teilen an den zwei losen Weltanschauungen orientieren.

Ebenfalls darf man nicht vergessen, dass beide dieser Weltanschauungen, zumindest in etablierter Form, vollkommen angemessen und berechtigt sind. Und wenn es angesichts grosser populistischer Ereignisse wie dem Brexit oder der Wahl Trumps die Aufgabe der modernen Politik ist, einen neuen Ausgleich zwischen den Interessen von Anywheres und Somewheres zu finden, gibt es ein Schlüsselprinzip, das von beiden Gruppen akzeptiert werden muss.

Und zwar dieses: Die meisten Formen von Gruppenzugehörigkeiten sind mit den liberalen Hauptwerten der Individualrechte und der moralischen Gleichheit der Menschen vereinbar. Anders gesagt: Das Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit setzt keine Feindseligkeit gegen Aussenstehende voraus.

Zwar ist es wahr, dass ein Teil der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Formen von Nationalismus beinhaltete, der auf Ausschluss von und Feindseligkeit gegen Aussenstehende basierte, aber eine Kombination von grösserem Wohlstand und mehr Sicherheit sowie mehrere Generationen liberalen Menschenverstands haben die Gefahr eines solchen militanten Nationalismus gemindert.

Ich glaube, dass Somewheres dies besser verstehen als Anywheres. Es gibt extremere Somewheres, die richtig autoritär und xenophobisch sind und die meisten der liberalen Werte ablehnen, doch die meisten von ihnen haben die «grosse Liberalisierung» der letzten paar Jahrzehnte hinsichtlich Rasse, Gender und Sexualität weitgehend mitgetragen. Sie stehen für eine Politik des dezenten Populismus.

Anywheres finden es hingegen sehr einfach, die Rechte von Fremden und deren Anspruch auf Gleichheit zu akzeptieren, jedoch ist es für sie schwieriger, Gruppenzugehörigkeit zu verstehen. Gerade in Grossbritannien, wo ich lebe, besteht die Elitenbildung seit dem Imperialismus zumindest teilweise darin, das Zugehörigkeitsgefühl zu Herkunftsort und -gruppe abzuschwächen, um so eine wirkungsvolle, geschlossene herrschende Klasse zu formen.

Die Hochschulbildung für die breite Masse in Grossbritannien orientiert sich an elitären Boarding Schools und Universitäten, wo internatsähnliche Wohnformen herrschen. Das bedeutet, dass die grosse Mehrheit der britischen Studenten ihr Zuhause mit 18 Jahren verlässt, um ans College zu gehen und in völlig anderen sozialen Kreisen zu verkehren als in ihrer Schule und Heimatstadt. Wenn sie danach eine berufliche Karriere verfolgen, kehren sie vielleicht nie mehr nach Hause zurück: Sie arbeiten ein paar Jahre in London oder auch im Ausland, bevor sie sich an einem Ort niederlassen, an dem sie gleichgesinnte Hochschulabgänger vorfinden.

Diese Entwurzelung der gebildeten Klasse hilft, die Schärfe der kulturellen Kluft im Hinblick auf das Brexit-Referendum zu erklären: Die meisten von denen, die für einen Verbleib in der EU stimmten, hatten keine Freunde, die für den Brexit waren – und umgekehrt. Nur wenige Abgänger von Elite-Universitäten zählen Leute zu ihren engen Freunden, die keine Hochschulabgänger sind. Deswegen gestaltet sich die Aufgabe der politischen Versöhnung in unseren liberalen Gesellschaften in Grossbritannien besonders schwierig. Dabei ist das Ziel einfach genug: ein liberaler Pluralismus, der durch das Gemeinschaftsgut gemässigt wird.

Weder militante Liberale, die fürchten, dass sich die Massen immer am Rande neuer Formen von Autoritarismus bewegen, noch militante Populisten, die Diversität feindlich gegenüberstehen, finden es leicht zu akzeptieren, dass viele Menschen ihr Leben nach verschiedenen Normen ausrichten. Natürlich kann es auch eine zu grosse Fragmentierung geben. Hier kommt der moderate Nationalismus ins Spiel: Indem er gemeinsame Normen und soziale Solidarität fördert, bildet er einen wichtigen Bindestoff für liberale Gesellschaften. Trotz der steigenden globalen Interdependenzen bleiben die meisten wichtigen Funktionen einer politischen Gesellschaft überwiegend national: das Recht, der Wohlfahrtsstaat, Demokratie – Dinge, die dazu führen, dass wir uns in einem gemeinsamen Unternehmen verbunden fühlen.

Die zentrifugalen Kräfte auf der Anywhere-Seite der modernen Gesellschaften sind stark: Der Kalte Krieg ist Geschichte, womit ein gemeinsamer Feind wegfällt, liberaler Individualismus ist die herrschende Gesinnung, hohe Einwanderungsraten und Diversität haben Vertrauen und Zusammenhalt geschwächt, Identitätspolitik hat das politische Handeln gesplittet. Die verwurzelteren Somewheres bieten einen zentripetalen Ausgleich zu diesen Trends, und dass diese Stimmen sich wieder behaupten, ist eine willkommene Entwicklung, die hilft, modernen Liberalismus mit jenem uralten Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu vereinen. Moderater Nationalismus ist der Lokalismus einer globalisierteren Welt und das Mittel, eine gewisse demokratische Kontrolle über diesen Prozess auszuüben.

Dieser Text wurde veröffentlich von The WorldPost, einer Partnerschaft des Berggruen Institute und der Washington Post.